Mutter von getötetem Kind: „Unser Leben ist zerstört“
Bei der Todesfahrt über den Magdeburger Weihnachtsmarkt kamen fünf Frauen ums Leben und ein Neunjähriger. Über 300 Leute wurden verletzt. Im Gericht kommen Betroffene zu Wort - und der Angeklagte?
Kurzzeitig war ein Sichtschutz vor dem Angeklagten aufgebaut. Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
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Im Prozess gegen den Todesfahrer vom Magdeburger Weihnachtsmarkt kommen immer mehr Betroffene zu Wort, schildern ihre Erinnerung an den Tatabend und die Folgen, die sie bis heute begleiten. Der Angeklagte folgte den Aussagen am elften Verhandlungstag im Landgericht Magdeburg mit gesenktem Kopf, teils versteckte er sein Gesicht. Keine Fragen, keine Anmerkungen von dem ursprünglich so aktiven 51-Jährigen.
Die Mutter eines getöteten Neunjährigen sagte als Zeugin aus. Unter Tränen, mit einem Kuscheltier vor sich und ihrem Partner an der Seite berichtete sie, wie sie ihren Kindern 50 Euro in die Hand gedrückt habe, damit diese allein über den Markt gehen konnten. Nachdem sie den Anschlag mitbekommen habe, sei sie schreiend auf die Suche nach dem Neunjährigen und seinem großen Bruder gegangen. Immer wieder unterbrach die Zeugin ihre Aussagen, wendete ein Taschentuch hin und her. „Unser Leben ist zerstört.“
Sichtschutzwände vor dem Angeklagten
Sie hatte sich gewünscht, dem Angeklagten im Gerichtssaal nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Deshalb wurden, als sie in den Raum kam, kurzzeitig graue Sichtschutzwände aufgestellt vor der Glaskabine, in der der Angeklagte während der Verhandlungen sitzt. Während der Aussage der Mutter, die mit ihrer Familie in Niedersachsen lebt, senkte der Angeklagte seinen Kopf so weit nach vorn, dass sein Gesicht kaum noch zu sehen war.
Der Vorsitzende Richter, Dirk Sternberg, drückte der Zeugin seinen großen Respekt dafür aus, dass sie die Kraft gefunden habe, vor Gericht überhaupt etwas zu sagen. Es sei schwer, Worte für das zu finden, was geschehen sei.
Der Angeklagte sitzt in einer Glaskabine im Verhandlungssaal. Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
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Am Vortag hatte eine Anästhesistin von den dramatischen Umständen vor Ort berichtet und wie sie vergeblich versuchte, den schwerstverletzten Jungen wiederzubeleben. Eine Rechtsmedizinerin, die an der Obduktion beteiligt war, sagte als Sachverständige auf die Frage, ob es eine Rettungsmöglichkeit für den Jungen gegeben hätte: „Ich denke nicht.“ Der Neunjährige ist eines von sechs Todesopfern.
Mit zwölf Tage altem Baby auf dem Weihnachtsmarkt davongerannt
Eine Reihe von Zeuginnen sagte an diesem elften Verhandlungstag aus. Zu ihnen gehörte eine Frau, die während des Anschlags mit ihrem zwölf Tage alten Baby auf dem Weihnachtsmarkt war. Sie habe das Kind aus dem Kinderwagen gerissen und sei gerannt, berichtete sie. Sie habe Angst gehabt, dass der ganze Weihnachtsmarkt in die Luft fliegt. Es habe gedauert, bis sie realisierte, dass ihr großer Sohn und der Vater noch auf dem Markt waren. Eine 45-jährige Fachschwester für Anästhesie berichtete, wie sie sich um eine 12-Jährige mit einer Kopfwunde kümmerte.
Ein 57 Jahre alter Mann, der mit seinem achtjährigen Sohn und seiner Frau auf dem Weihnachtsmarkt war, beschrieb, dass das Fahrzeug wie ein „Menschenpflug mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit“ durch die Menschenmassen gefahren sei. Er habe gedacht, er sei drüber weg, aber der Prozess wühle alles wieder auf. In Richtung des Angeklagten sagte er, er habe kein Verständnis für alle seine Erklärungen für die Tat. „Es ist kein Grund, in einem Land, das sie aufgenommen hat, Leute umzubringen oder schwer zu verletzen.“
Der ursprünglich sehr aktive Angeklagte schweigt
Der Angeklagte vermied während der Zeugenaussagen den Blickkontakt. Zeitweise verbarg er sein Gesicht hinter einem Taschentuch. Ein Nebenklageanwalt wies darauf hin, dass das Gesicht des Angeklagten während der Verhandlung zu sehen sein muss, um etwa Reaktionen erkennen zu können. Fortan senkte der 51-Jährige, der bis zur Tat als Psychiater im Maßregelvollzug für psychisch kranken Straftätern arbeitete, seinen Kopf. Er meldete sich auch wie schon am vorigen Verhandlungstag nicht mehr zu Wort.
Zu Beginn des Prozesses hatte der 51-Jährige immer wieder zu langen Ausführungen ausgeholt. Er hatte deutlich gemacht, dass er sich etwa von Polizei und Justiz nicht ernst genommen fühlte, stellte sich als Aktivisten für die Rechte saudischer Frauen dar. Einige Zeugen ging er im Gericht teils massiv an, beispielsweise ehemalige Arbeitskollegen und einen ehemaligen Anwalt. Bevor die ersten Betroffenen als Zeugen aussagten, verabredete der Vorsitzende Richter Sternberg mit den Angeklagten, dass dieser die Opfer nicht direkt anspricht und befragt.
Für den Prozess ist ein eigenes Interims-Gerichtsgebäude entstanden. So haben alle Betroffenen die Möglichkeit, bei dem Verfahren dabei zu sein. Klaus-Dietmar Gabbert/dpa
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Am 20. Dezember lenkte der damals 50-jährige Taleb al-Abdulmohsen laut der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg den mehr als zwei Tonnen schweren und 340 PS starken Wagen etwa 350 Meter weit über den Weihnachtsmarkt. Der Mann aus Saudi-Arabien war mit bis zu 48 Kilometern pro Stunde unterwegs. Der Junge sowie fünf Frauen im Alter von 45 bis 75 Jahren kamen ums Leben. Mehr als 300 weitere Menschen wurden verletzt. Der Angeklagte hat die Tat zugegeben.
Der Prozess wird am 15. Dezember fortgesetzt.