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Missbrauchsüberlebende: „Gott hatte mich nicht mehr lieb“

Kerstin Krebs schildert, wie sie als Kind und Jugendliche in der evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt erlebte – und warum die Synode ihr bis heute das Gefühl gibt, missachtet zu werden.

Von Leonard Fischer, dpa

25.11.2025

Wenn Kerstin Krebs am Mittwochmorgen vor die Mitglieder der Landessynode der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers tritt, hat sie zehn Minuten Zeit ‒ um Worte auszusprechen, für die sie Jahrzehnte gebraucht hat.

Das Kirchenparlament lädt Menschen ein, die in der Landeskirche sexualisierte Gewalt erfahren haben, direkt zur Synode zu sprechen. Kerstin Krebs ist einer von ihnen. Trotzdem hätte die Ende-Fünfzig-Jährige fast lieber wieder geschwiegen – wegen Rahmenbedingungen, die sie als „Ablehnung und Verrat“ empfindet. So bezeichnet die Frau aus der Region Hannover es selbst in ihrer Rede an die Synode, die der Deutschen Presse-Agentur vorab vorlag.

Es wiederhole sich das „System der Vereinzelung“

Anders als die restliche Synode ist die Anhörung der von sexualisierter Gewalt Betroffenen nicht öffentlich. Nach ihrer Rede wird Krebs den Saal wieder verlassen müssen. Eine Begleitung ist erlaubt, gegenseitiges Zuhören der Betroffenen jedoch nicht vorgesehen. „Als ich das Reglement bekommen habe, ist mir richtig der Hut hochgegangen“, sagte sie.

Kerstin Krebs lebt seit ihrer Kindheit mit den Folgen sexualisierter Übergriffe in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.Shireen Broszies/dpa

Kerstin Krebs lebt seit ihrer Kindheit mit den Folgen sexualisierter Übergriffe in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.Shireen Broszies/dpa

© Shireen Broszies/dpa

Für die Frührentnerin ist genau das ein Kern des Problems. „Betroffene können sich nicht zuhören und somit nicht stützen – das ist ein massiver Eingriff“, sagte Krebs im Gespräch. Es wiederhole sich das „System der Vereinzelung“, das sie in der Kirche seit Jahren erlebe.

Krebs: Kirche schützt mehr sich selbst als die Betroffenen

Die Landeskirche begründet die nicht öffentliche Sitzung damit, einen geschützten Raum schaffen zu wollen. Die Beiträge seien an die Synode gerichtet, nicht an die Öffentlichkeit. Doch „die angeblichen Schutzmaßnahmen für die Betroffenen sind Schutz für die Kirche selbst“, findet Krebs.

Laut dem Sprecher der Landeskirche gab es ein Treffen mit Betroffenen, um mit ihnen über ihre Erwartungen zu sprechen. „Nach dem Treffen ist deutlich gewesen, dass der eine Weg, der für alle betroffenen Personen gleichermaßen passt, nicht existiert“, sagte er auf Nachfrage.

„Was deine arme Mutter dazu sagen wird! So ein Flittchen!“

Die Frührentnerin bezeichnet sich selbst als „Überlebende“. Sie habe sexualisierte Gewalt in der Kirche immer wieder und über viele Jahre erlebt – beginnend als Grundschulkind, endend als Konfirmandin. Täter geworden seien unter anderem ein Pastor und die Mitarbeiterin eines Kindergottesdienstes ‒ aber auch Mitglieder ihrer eigenen Familie. „Was deine arme Mutter dazu sagen wird! So ein Flittchen!“, zitiert Krebs in ihrer Rede die Mitarbeiterin des Kindergottesdienstes.

Die erlebte Gewalt beschreibt Krebs in drastischen Bildern. Täter haben sie demnach bedroht, ihre Taten religiös überhöht, sie isoliert. Bei ihren ersten Gedanken an Selbsttötung sei sie noch keine 14 Jahre alt gewesen. „Niemand war da für mich. Denn Gott hatte mich nicht mehr lieb“, schreibt Krebs in ihrer Rede. Die Erinnerungen zu löschen, sei für sie der einzige Weg gewesen, um zu überleben.

35 Jahre lang verdrängte sie den Schmerz

Erst rund 35 Jahre später, schreibt Krebs, sei alles wieder hochgekommen – diesmal mit therapeutischer Begleitung. In vielen Jahren „harter Traumapsychotherapie“ habe sie gelernt, Stabilität zurückzugewinnen und „mich selbst nicht zu verurteilen“.

Auch das ist Kerstin Krebs: „Es gibt die Momente, in denen es mir richtig gut geht. Ich bin ein unfassbar lebensfroher Mensch.“Shireen Broszies/dpa

Auch das ist Kerstin Krebs: „Es gibt die Momente, in denen es mir richtig gut geht. Ich bin ein unfassbar lebensfroher Mensch.“Shireen Broszies/dpa

© Shireen Broszies/dpa

Nach Ansicht von Krebs erfahren durch sexualisierte Gewalt traumatisierte Menschen im kirchlichen Umfeld häufig zunächst eher Zweifel statt Solidarität – im Gegensatz zu etwa von Terroranschlägen Traumatisierte. Kirche und besonders die Führung der Landeskirche Hannovers setzen laut Krebs auf „gesellschaftliche Ermüdung“ statt Aufarbeitung.

Landeskirche weist die Kritik zurück

Die Landeskirche weist die Kritik zurück, zu wenig zu tun oder Aufarbeitung zu bremsen. Ein Sprecher sagte auf Anfrage, die Kirche habe in den vergangenen Jahren „viele Schritte unternommen, um die Hilfe, Aufarbeitung, Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt in der Kirche zu verbessern“.

Dazu gehörten zwei umfangreiche Aufarbeitungsverfahren, laufende weitere Untersuchungen, deutlich ausgebaute therapeutische und beratende Angebote sowie verpflichtende Präventionsschulungen, die mehr als 20.000 Mitarbeitende besucht hätten.

Krebs zu Schmerzen und Schwindel: „Das sind Körpererinnerungen“

Dass Krebs trotzdem vor der Synode sprechen will, beschreibt sie als eine Mischung aus Erschöpfung und Entschlossenheit. Körperliche Reaktionen – Schmerzen, Schwindel, Taubheitsgefühle – begleiten sie. „Nichts davon ist organisch präsent“, sagt Krebs. „Das sind Körpererinnerungen.“ Die Gewalt prägt das Leben der Frührentnerin bis heute. Seit rund 15 Jahren könne sie nicht mehr arbeiten.

Krebs will mit ihrer Rede ein Signal setzen – für sich und für andere. „Es geht mir nicht darum, ein Teil der Kirche zu sein“, schreibt sie in ihrer Rede. Sie fordere stattdessen einen angemessenen Umgang mit den Opfern sexualisierter Gewalt und will erfahren, „was, wie und warum geschehen ist“.

Hoffnung auf Aufarbeitung nicht aufgegeben

Wenn Krebs am Morgen als vermutlich erste Betroffene spricht, wird sie es vor Menschen tun, von denen sie sich seit Jahren Gehör wünscht – und von denen sie sich bisher oft missachtet fühlt.

Trotz ihrer schlechten Erfahrungen mit der Kirche hat Krebs die Hoffnung auf Aufarbeitung nicht aufgegeben. Am Ende ihrer Rede richtet sie sich an die Delegierten: „Machen Sie etwas aus diesem Tag!“

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