Wildnisgebiet im Solling - Wo die Natur wieder übernimmt
Im Solling darf die Natur nach und nach ein Waldstück zurückerobern. Wie entwickelt sich das dort eingerichtete Wildnisgebiet und welche Rolle spielt es bei Waldbränden?

Umgestürzte Bäume werden im Wildnisgebiet nicht geräumt. (Archivbild)Swen Pförtner/dpa
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Knorrige Bäume, zugewucherte Pfade und eine breite Artenvielfalt im Unterholz - so soll es einmal in einem Waldstück im Solling aussehen. Vor fast vier Jahren wurde dort westlich von Northeim eines der größten Wildnisgebiete Niedersachsens angelegt. Am Samstag darf erstmals eine größere Besuchergruppe in das geschützte Waldgebiet. Worauf müssen sich die Besucherinnen und Besucher einstellen?
Was ist das Wildnisgebiet?
Das rund 1.000 Hektar große Areal im Bereich des Waldgebietes „Limker Strang“ ist der zweitgrößte zusammenhängende Naturwald außerhalb des Nationalparks Harz, wie die Landesforsten mitteilten, die für den Landeswald zuständig sind. Nur der Naturwald im Süntel bei Hessisch Oldendorf etwas weiter nördlich ist noch etwas größer. Im ganzen Bundesland sind inzwischen mehr als zehn Prozent des Landeswaldes und knapp 34.000 Hektar als Naturwälder ausgewiesen.
Anders als im restlichen Landeswald werden die Naturwälder nach Angaben der Landesforsten nicht bewirtschaftet. Das heißt, dass dort kein Holz geerntet und auch sonst keine Pflegearbeiten verrichtet werden. Der Wald wird also praktisch sich selbst überlassen und soll so natürlich zu einem Urwald heranwachsen.
Wozu gibt es Naturwälder?
Die Schutzgebiete, auch „Urwälder von morgen“ genannt, werden seit den 1970er Jahren in Niedersachsen angelegt. Dort sollen urwaldähnliche Strukturen - etwa absterbendes und zerfallendes Holz - geschaffen werden, um Lebensräume für Tiere zu schaffen, die auf genau solche Gebiete angewiesen sind, wie es von den Landesforsten heißt. In bewirtschafteten Wäldern gibt es solche Gebiete kaum, weil Bäume dort meist geerntet werden, bevor sie ihr natürliches Höchstalter erreicht haben und absterben.
Naturwälder gibt es neben dem Weserbergland und dem Harz unter anderem auch in der Elbtalaue östlich von Lüneburg oder im Drömling bei Wolfsburg. Die Nordwestdeutsche forstliche Versuchsanstalt untersucht die Schutzgebiete regelmäßig wissenschaftlich. Das so gewonnene Wissen soll auch in bewirtschafteten Wäldern berücksichtigt werden.
Wie entwickelt sich das Wildnisgebiet im Solling?
Bisher hat sich das Gebiet noch kaum entwickelt. Dafür ist der Zeitraum von vier Jahren zu kurz, wie ein Sprecher der Landesforsten mitteilte. Auffällig ist bisher vor allem, dass dort nun weniger Fichten stehen. Diese werden derzeit noch nach und nach aus dem Wald entnommen oder gefällt und als Totholz liegen gelassen.
Künftig sollen Buchen den Wald prägen. Nach Angaben des Naturschutzbundes Niedersachsen zählt der Solling zu den bedeutendsten Lebensräumen für Buchen in Europa. Mindestens die Hälfte der Buchenbestände im Gebiet seien mehr als 150 Jahre alt, hieß es vom Niedersächsischen Umweltministerium zur Eröffnung des Wildnisgebietes.
Zudem werden aktuell noch weitere heimische Baumarten wie die Moorbirke, Erle, Aspe oder Hasel gepflanzt. Die Landesforsten gehen davon aus, dass die Arbeiten 2033 abgeschlossen sein werden. „Dann bleibt sich die Natur selbst überlassen“, sagte Revierförster Peter Martensen, der das Wildnisgebiet zusammen mit seinem Kollegen Lars Niemeier betreut.

Das Wildnisgebiet liegt im Bereich des Waldes „Limker Strang“ im Solling.Swen Pförtner/dpa
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Gleichzeitig breitet sich in dem Wildnisgebiet und dem übrigen Solling der Luchs aus. Im Juli 2023 wurde erstmals eine Jungluchsin im Wildnisgebiet ausgesetzt. Das Tier stammte aus der Population, die zwischen 2000 und 2006 im Harz angesiedelt wurde. Ein Jahr nach der Aussetzung wurde die Luchs-Dame laut dem Umweltministerium Mutter.
Seit 2013 werden demnach immer mal wieder Luchse im Solling gesichtet. Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mahnte allerdings bei der Aussetzung der Jungluchsin, dass für eine dauerhafte Ansiedlung die rasche Entwicklung des Wildnisgebiets als künftiger Lebensraum wichtig sei. Die Pinselohren galten laut dem BUND in Niedersachsen lange Zeit als ausgestorben.
Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es bereits?
Noch nicht allzu viele. Der bisherige Beobachtungszeitraum sei für ein komplexes Waldökosystem sehr kurz, sagte ein Landesforsten-Sprecher. Demnach wurden allerdings bereits rund 1.400 Arten im Wildnisgebiet nachgewiesen. „Damit ist das Arteninventar des bisher weit überwiegend als Wirtschaftswald genutzten Gebietes bereits sehr beachtlich“, sagte Sprecher Mathias Aßmann.
Für die Beobachtungen im Wald nutzen die Wissenschaftler auch Künstliche Intelligenz, erklärte Förster Lars Niemeier. „Vogelstimmen oder Fledermäuse werden beobachtet, Rufe aufgezeichnet und mithilfe Künstlicher Intelligenz die Arten bestimmt.“
Sind Naturwälder eine Gefahr für Waldbrände?
Ja und nein. Klar ist: In den Wildnisgebieten werden teilweise auch Forstwege zurückgebaut, die bei einem Waldbrand auch die Feuerwehr nutzt. Zwar bleiben kleinere Pfade für Wanderer und einige sogenannten Sicherungswege für die Feuerwehr erhalten. Aber: Insgesamt werde es in Zukunft im Wildnisgebiet weniger Wege als in angrenzenden Wäldern geben, sagte der Landesforsten-Sprecher.
Deshalb gab es vor einigen Jahren auch Kritik vom Bürgermeister von Hessisch Oldendorf, Tarik Oenelcin (parteilos), in dessen Stadtgebiet das Wildnisgebiet am Hohenstein liegt. Er sorgte sich vor hohen Kosten für Feuerwehreinsatz, wenn etwa Löschhubschrauber zum Einsatz kommen müssen. Die Landesforsten und das Landwirtschaftsministerium hatten schon damals argumentiert, dass bei einem Waldbrand in einem Naturwald die Gegenmaßnahmen dann unter Umständen auf umliegende bewirtschaftete Wälder begrenzt werden müssten.
Die erschwerten Löschbedingungen durch weniger Wege hätten aber auch etwas Gutes: Weniger Wege bedeuten auch weniger Menschen. Und die sind nahezu immer für Waldbrände verantwortlich - entweder durch absichtliches oder zumindest durch fahrlässiges Handeln. Generell brenne Naturwald aber auch nicht so leicht wie der meiste bewirtschaftete Wald. Dort gebe es mehr Schatten und daher weniger Gras, über dass sich Brände üblicherweise schnell ausbreiten. Auch seien Laubbäume weniger leicht entzündlich als Nadelbäume.