Panorama

Ein Minimum an Abschied: Wie erinnern an Tote ohne Familie?

Verwaltungsakt statt Zeremonie: Wer nach dem Tod niemanden hat, der sich kümmert, wird vom Amt bestattet, oft anonym. Doch es gibt Menschen, die dem etwas entgegensetzen wollen.

21.11.2025

Im September sind in Essen 16 Menschen ordnungsbehördlich bestattet worden – an diese „unbedacht verstorbenen“ wird in einem Gottesdienst erinnert. Fabian Strauch/dpa

Im September sind in Essen 16 Menschen ordnungsbehördlich bestattet worden – an diese „unbedacht verstorbenen“ wird in einem Gottesdienst erinnert. Fabian Strauch/dpa

© Fabian Strauch/dpa

Sechzehn Kerzen leuchten an diesem Abend im Essener Dom. Jede davon steht für einen Menschen, der in den vergangenen Wochen in der Stadt anonym beerdigt wurde, weil es keine nahen Angehörigen gibt, die sich kümmern konnten oder wollten. 

Mehr als 500 solcher ordnungsbehördlichen Bestattungen gab es allein in Essen im Jahr 2024. Nach Auskunft der Stadt hat die Zahl der Bestattungen „von Amts wegen“, wie sie auch genannt werden, seit 2015 um rund ein Drittel zugenommen. In anderen nordrhein-westfälischen Großstädten werden jeweils ebenfalls mehrere hundert Menschen pro Jahr ordnungsbehördlich bestattet, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab – oft anonym auf dafür vorgesehenen Urnengrabfeldern. Auch in Duisburg sind die Zahlen kontinuierlich gestiegen, in den meisten NRW-Großstädten schwankt die Entwicklung. 

Mit monatlichen „Gedenkgottesdiensten für die Unbedachten“ versuchen die Kirchen in Essen, ein Minimum an Abschied zu ermöglichen. Ähnliche Initiativen von Gemeinden oder Ehrenamtlern gibt es auch anderswo. In Essen ist es der Arbeitskreis der christlichen Kirchen, der die Gedenkfeiern organisiert.

16 Menschen – für viele vielleicht unsichtbar

„Sie waren einzigartig und vielleicht doch für viele unsichtbar“, sagt die Essener Gemeindereferentin Elvira Neumann zur Gottesdiensteröffnung im Dom. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Gerald Kunde von der Freien evangelischen Gemeinde Essen-Mitte wird sie durch den Gottesdienst führen: Sie werden 16 Namen verlesen und am Altar für die 14 Männer und 2 Frauen jeweils eine Kerze entzünden. 

Gemeindereferentin Elvira Neumann und Pastor Gerald Kunde wollen mit der Zeremonie ein Zeichen der Mitmenschlichkeit setzen. Fabian Strauch/dpa

Gemeindereferentin Elvira Neumann und Pastor Gerald Kunde wollen mit der Zeremonie ein Zeichen der Mitmenschlichkeit setzen. Fabian Strauch/dpa

© Fabian Strauch/dpa

Ein Blatt mit den Namen und dem Alter wird abschließend im Dom hinterlegt. Es wird gemeinsam gebetet, gesungen und der Toten gedacht. 

Die Vorstellung, die Menschen ohne diese Zeremonie bestattet zu wissen, empfinden Neumann und Kunde als „schrecklich“: „Da würde ich mich kalt und trostlos fühlen“, sagt Kunde. Und Neumann ergänzt: „Da verlieren wir Menschen etwas von unserer Menschlichkeit.“ 

Gottesdienste vor Jahren besser besucht

Ein Zeichen der Mitmenschlichkeit setzen an diesem Novemberabend rund 30 Besucherinnen und Besucher des Doms – vor der Corona-Pandemie seien es mehr gewesen, heißt es aus dem Bistum. Manche sind allein gekommen, manche in kleinen Gruppen oder zu zweit. Viele haben graues oder lichteres Haar, aber auch einige Jüngere nehmen teil. Manche sind geübt mit den Abläufen eines Gottesdienstes, andere halten sich etwas unsicher im Hintergrund. Für alle sei der Gottesdienst gleichermaßen da, betont Neumann. 

Rund 30 Menschen nehmen dieses Mal an dem Gottesdienst teil.Fabian Strauch/dpa

Rund 30 Menschen nehmen dieses Mal an dem Gottesdienst teil.Fabian Strauch/dpa

© Fabian Strauch/dpa

Am Ende stellen sich die beiden bewusst an den Ausgang und zeigen sich gesprächsoffen. So erfahren sie manchmal auch, warum jemand gekommen ist: Auch dieses Mal kannten einige den Verstorbenen. Sie hätten sich bei ihr für die Möglichkeit bedankt, sich von ihrem alten Schulfreund verabschieden zu können, berichtet Neumann.

Gegen das Verdrängen von Tod und Krankheit

Nach ihrer Überzeugung sei das Angebot auch wichtig, um die Endlichkeit des Lebens nicht zu verdrängen: „Tod, Krankheit und Sterben sind irgendwie ins Private outgesourced. Doch gemeinsam diese Themen in den Blick zu nehmen, das brauchen wir wieder mehr.“ 

Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten habe die Zahl der anonymen Bestattungen zugenommen, ist auch der Eindruck des Pfarrers Michael Dörnemann. Als Domprobst von Essen ist er einerseits Gastgeber für die regelmäßigen Gottesdienste, leitet sie aber auch im Wechsel mit seinen Kollegen. „Es sterben einfach mehr Menschen, die entweder niemanden mehr haben oder bei denen die Angehörigen nicht einsehen, sich um die Bestattung zu kümmern“, erklärt er. „Der Familienzusammenhalt ist nicht mehr so da, Strukturen von Nachbarschaft haben sich verändert.“ 

Eltern oder Kinder: Zur Bestattung verpflichtet

Laut Bestattungsgesetz des Landes sind grundsätzlich die nächsten Angehörigen verpflichtet, ihre Toten zu begraben. Gibt es keine nahen Verwandten oder können die Behörden sie nicht rechtzeitig finden, springt das Amt ein – die finanzielle Situation der Familie sei dabei nicht ausschlaggebend, betont die Stadt Essen. Wer finanziell nicht in der Lage sei, könne eine Kostenübernahme beantragen. 

„In vielen Fällen liegen zerrüttete oder abgebrochene Familienverhältnisse vor“, heißt es exemplarisch aus der Landeshauptstadt Düsseldorf zu den Gründen. So spiele der demografische Wandel, die Zunahme alleinlebender und vereinsamter älterer Menschen mit geringer sozialer Einbindung vermehrt eine Rolle. 

Domprobst Michael Dörnemann: „Der Familienzusammenhalt ist nicht mehr so da“.Fabian Strauch/dpa

Domprobst Michael Dörnemann: „Der Familienzusammenhalt ist nicht mehr so da“.Fabian Strauch/dpa

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Für Dörnemann als Christ sind die Bestattungen auf Veranlassung des Ordnungsamtes ohne Trauerfeier problematisch: „Ich finde das schon schwierig: Dann ist da jemand einfach so verscharrt worden.“ 

Für Christen ein „Werk der Barmherzigkeit“

Die Gottesdienste sollen die Toten aus ihrer Anonymität holen und denjenigen Raum geben, die Abschied nehmen möchten: Oft gebe es eben doch jemanden, in dessen Leben der oder die Tote Spuren hinterlassen habe – als Nachbar, alter Schulfreund oder entfernter Verwandter. Damit sie überhaupt vom Tod erfahren, erscheint vor den Gottesdiensten eine Sammeltodesanzeige in der lokalen Presse. 

Andere kommen aus purer Nächstenliebe: So sei es für Christen traditionell ein Werk der Barmherzigkeit, Tote zu begraben – unabhängig davon, ob man jemandem nahestand oder ob es um Unbekannte geht. „Es gibt auch Leute, die kommen jedes Mal“, berichtet Dörnemann.

Für jeden von Ihnen wird vor dem Altar eine Kerze entzündet. Fabian Strauch/dpa

Für jeden von Ihnen wird vor dem Altar eine Kerze entzündet. Fabian Strauch/dpa

© Fabian Strauch/dpa