Münsterland

Bücher als Guckloch in Diskogeschichte

Mehrere hundert Seiten ist es dick, knapp 20 Zentimeter stark, die Schnittkanten schimmern golden, und wer es durchblättert, taucht ab in tiefste Musikgeschichte: Das aktuelle Gästebuch der Fabrik ist voll – nach 30 Jahren. „Wir nennen es auch unsere ,Bibel‘“, sagt Carsten Averkamp mit einem Augenzwinkern und streicht über den dunkelbraunen Einband.

04.07.2023

Geschäftsführer Heinz Oenning (l.) und Carsten Averkamp, Booker der Fabrik, mit den Gästebüchern im Backstage-Bereich. Das zweite Buch ist nach nunmehr 30 Jahren voll und bietet eine unglaubliche Zeitreise in die Musikgeschichte der vergangenen Jahrzehnte

Geschäftsführer Heinz Oenning (l.) und Carsten Averkamp, Booker der Fabrik, mit den Gästebüchern im Backstage-Bereich. Das zweite Buch ist nach nunmehr 30 Jahren voll und bietet eine unglaubliche Zeitreise in die Musikgeschichte der vergangenen Jahrzehnte

© Jessica Demmer

Die Fabrik in Coesfeld hat ihr zweites Gästebuch gefüllt

COESFELD. Als sogenannter Booker organisiert Carsten Averkamp in der Fabrik die Auftritte der Bands.

Voll mit Zeichnungen, Anekdoten, Unterschriften, Fotos, Eintrittskarten und persönlichen Widmungen ist es ein Herzstück der Diskothek, die es schon seit 1984 gibt. „Einer der ersten Beiträge in diesem Buch stammt Ende 1993 von Wolf Biermann und Eva-Maria Hagen, der Mutter von Nina Hagen. Sie hat ihren Beitrag komplett spiegelverkehrt geschrieben“, zeigt der Booker der Fabrik auf die ersten Seiten. Dicht gefolgt vom nächsten Eintrag der Rockband Motörhead, die 1994 zum ersten Mal den Weg nach Coesfeld gefunden hat. „Sänger Lemmy Kilmister entschuldigt sich im Gästebuch dafür, einem Gast ins Gesicht getreten zu haben, nachdem dieser ihn mit einem Becher auf der Bühne beworfen hat.“

Komplettes Hotelzimmer zerlegt

An eine noch wildere Anekdote erinnert sich Geschäftsführer Heinz Oenning mit einem Lachen, als er den Eintrag der Rockband Jingo de Lunch liest. „Die hatten eine italienische Vorband, die im früheren Hotel Walters, später Münstertor, untergebracht war. Die haben das komplette Hotelzimmer zerlegt, alles außer TV und Außenscheibe. Ich habe dann irgendwann einen Anruf vom Besitzer bekommen.

Im Gedächtnis sind auch die Vorbereitungen zum Auftritt der Band „Christian Death“ geblieben. „Die hatten ein ganz dunkles Plakat mit einem Kreuz darauf, das dem Coesfelder Lambertikreuz ähnelte. Es gab große Diskussionen, ob wir in Coesfeld dieses Plakat überhaupt aufhängen durften. Der damalige Stadtdirektor hatte es verboten, aber wir waren der Meinung, dass Kunst frei ist und haben es trotzdem gemacht“, so Heinz Oenning. „Viele Bands hatten bei uns ihre Anfänge. Fury in the Slaughterhouse zum Beispiel. Nick Cave, der heute ganze Stadien füllt. Björk, die damals noch mit ihrer Band The Sugarcubes unterwegs gewesen ist.“ Alles nachzulesen im Gästebuch.

Genau wie Einträge der Ärzte, die das leckere Essen erwähnen, der Toten Hosen, der Beatsteaks, Nina Hagen, der Dropkick Murphys oder des britischen Pianisten Jools Holland.

Bücher als Guckloch in Diskogeschichte

© Jessica Demmer

Technische Probleme, mit kurioser Lösung

„Ich erinnere mich auch noch an den Auftritt der US-Band Body Count, von Rapper Ice-T gegründet“, so Heinz Oenning. „Wir hatten technische Probleme, denn die Backline, ein Teil der Musikanlage, die die Künstler dabei hatten, funktionierte nur mit 120 Volt. Wir haben aber 220 Volt. Ich habe Himmel und Hölle an dem Sonntag in Bewegung gesetzt, zweieinhalb Stunden vor dem Auftritt, um passende Transformatoren zu besorgen. Die habe ich dann zwar bekommen, aber die konnten die Leistung nicht so lange halten. Also stand jemand hinter der Bühne und hat regelmäßig die Sicherungen ausgetauscht, die nach und nach durchgebrannt sind. Ich glaube, das Publikum hat es nicht gemerkt.“

Witzig auch die Anekdote um die finnische Band Leningrad Cowboys, die ihren Tourmanager feuerte, als sie Coesfeld auf der Liste der Spielorte sah und ihn nach dem Auftritt vor Ort wieder einstellte, „weil die Stimmung einfach so unfassbar gut war“, so Carsten Averkamp.

Neben Bands waren auch regelmäßig Comedians zu Gast – genau wie die Bands teilweise mehrfach im Gästebuch verewigt: Kurt Krömer, Mario Barth, Helge Schneider, Markus Krebs, Johann König oder auch Atze Schröder, um nur einige zu nennen.

Einer der letzten Einträge aus Mai 2022 stammt von der Punkband Bad Religion. „Ich habe zehn Jahre gebraucht, um sie wieder hierhin zu holen“, erinnert sich Averkamp. Ein würdiger Abschluss für das zweite Gästebuch der Fabrik – das erste deckt die Jahre 1987 bis 1993 ab – und ein guter Vorgeschmack auf das, was im nunmehr dritten Gästebuch Einzug halten wird.

Bücher als Guckloch in Diskogeschichte

© Jessica Demmer